Bayerische Unternehmen sehen „Brexit“ kritisch: Großbritannien bleibt wichtiger Wirtschaftspartner
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Bayerische Unternehmen sehen „Brexit“ kritisch: Großbritannien bleibt wichtiger Wirtschaftspartner

Diese Scheidung nach 43 Jahren wird kein klarer Schnitt werden – eher droht ein quälendes Trennungsdrama: Großbritannien hat sich am 23. Juni per Volksentscheid für seinen Austritt aus der Europäischen Union entschieden. Die politischen und wirtschaftlichen Schockwellen dieses „Brexit“ sind weltweit zu spüren. Auch in Bayern. Laut Ilse Aigner, stellvertretende Ministerpräsidentin und Bayerische Staatsministerin für Wirtschaft und Medien, Energie und Technologie, müssen die Folgen für die Unternehmen „so gering wie möglich“ gehalten werden.

Fünftwichtigster Handelspartner Deutschlands

Das Vereinigte Königreich lag 2015 auf Platz fünf der wichtigsten Handelspartner der Bundesrepublik Deutschland. Laut Statistisches Bundesamt wurden zwischen beiden Staaten Waren im Wert von 127,6 Mrd. Euro gehandelt. Für den deutschen Außenhandel von größerer Bedeutung waren nur die Vereinigten Staaten, Frankreich, die Niederlande und die Volksrepublik China. Die Bundesrepublik exportierte 2015 Waren im Wert von 89,3 Mrd. Euro in das Vereinigte Königreich. Zu den wichtigsten Exportgütern gehörten Kraftwagen und Kraftwagenteile (29,1 Mrd. Euro) sowie Maschinen (8,8 Mrd. Euro). Vom Vereinigten Königreich wurden Waren im Wert von 38,3 Mrd. Euro importiert. Auch hier waren Kraftwagen und Kraftwagenteile (6,0 Mrd. Euro) die wichtigsten Importgüter sowie sonstige Fahrzeuge wie Luft- und Raumfahrzeuge (4,4 Mrd. Euro).

Das Vereinigte Königreich erwirtschaftete 2014 als eine der drei großen Volkswirtschaften neben Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland rund 14 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts der Staatengemeinschaft. 2015 lebten in Großbritannien rund 2,99 Mio. gemeldete EU-Ausländer, darunter 133.000 Deutsche. Ihr Aufenthalt ist bislang durch das Recht auf Freizügigkeit geregelt. Mit dem Brexit muss das Verhältnis zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich auf eine neue Grundlage gestellt, die Handelsbeziehungen neu geregelt werden.

Zweitwichtigster Exportmarkt Bayerns

Die bayerischen Unternehmen und Landwirte sind angespannt. „Mit dem Brexit wird der Europäische Binnenmarkt, Bayerns wichtigster Wirtschaftsraum, deutlich geschwächt mit noch nicht absehbaren Folgen für die Unternehmen im Freistaat“, warnt Eberhard Sasse, Präsident des Bayerischen Industrie- und Handelskammertags (BIHK). Bayern verliere sowohl seinen zweitwichtigsten Exportmarkt, als auch einen sehr dynamischen Absatzmarkt: Allein im vergangenen Jahr haben bayerische Unternehmen Waren im Wert von 15,5 Milliarden Euro in das Vereinigte Königreich exportiert – gegenüber 2014 ein Plus von 22 Prozent.

Mittelfristig werden Geschäfte mit diesem Auslandsmarkt komplizierter werden, prognostiziert der BIHK-Präsident. Selbst wenn der Brexit keine unmittelbaren rechtlichen Veränderungen auslöse, seien Währungsturbulenzen und eine Verteuerung der Exporte zu erwarten. Langfristig seien die wirtschaftlichen Folgen des Austritts von den künftigen Vereinbarungen zwischen der EU und Großbritannien abhängig. Diese neu zu regeln, dafür sieht Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union einen Zeitraum von zwei Jahren vor. „In dieser Phase der Unsicherheit ist eine Investitionszurückhaltung von beiden Seiten zu erwarten“, befürchtet Sasse. Aus diesem Grund fordert die „vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft“, das künftige Verhältnis zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich schnell zu klären, die Phase der Unsicherheit und der Investitions- und Kaufzurückhaltung so kurz wie möglich zu halten. Laut vbw-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt müsse die EU aus dem Referendum zudem Lehren ziehen und „die Ursachen für Austritts-Bestrebungen bekämpfen“.

Nach Einschätzung des „Deutschen Bauernverbandes (DBV)“ hat der Brexit wegen drohender neuer Exporthürden deutlich negative Folgen für die deutsche Land- und Agrarwirtschaft. Dem BDV zufolge beliefen sich die Exporte der deutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft in das Vereinigte Königreich 2015 auf rund 4,8 Mrd. Euro, die Importe auf 1,4 Mrd. Euro: Mit 3,4 Mrd. Euro ist das Vereinigte Königreich für die Bundesrepublik Deutschland das Land mit dem größten Nettoagrarexport-Saldo. Der Brexit werde diesen Agrarhandel beeinträchtigen, weil die Kosten in beide Richtungen stiegen. Für den Freistaat dürften die Folgen laut „Bayerischer Bauernverband (BBV)“ besonders bei Milch, Milcherzeugnissen und Fleisch drastisch sein.

Sonderstatus Großbritanniens

Politisch machen die oberbayerischen Europaabgeordneten Angelika Niebler (CSU) und Maria Noichl (SPD) Demagogen und Populisten für den Brexit verantwortlich. Mit dem rechtskräftigen Austritt profitiere Großbritannien nicht mehr von den vier Grundfreiheiten in der EU – freier Personenverkehr, freier Warenverkehr, freier Dienstleistungsverkehr und freier Kapitalverkehr. Allerdings hatte das Vereinigte Königreich bereits eine Sonderstellung, nahm weder an der Währungsunion, noch an der gemeinsamen Justiz- und Innenpolitik oder dem grenzfreien Schengenraum teil, erhielt 1984 sogar einen Rabatt auf die Beitragszahlungen, der sich laut EU-Kommission bis heute auf mehr als 100 Milliarden Euro summiert. „Es war immer klar – wenn der Entschluss zum Brexit steht, gibt es keine sanfte Landung für Großbritannien“, betont denn auch Noichl.

Warnung vor „Rosinenpickerei“

Doch folgenlos bleibt der Brexit auch für die EU nicht. Das Europäische Parlament sieht es in der Konsequenz als „notwendig“ an, die EU „zu reformieren und sie besser und demokratischer zu machen“. Der „Kern der EU“ müsse gestärkt und „á la carte“-Lösungen sollten vermieden werden. Diese in Aussicht gestellten Reformen müssten zu einer Union führen, „die das bietet, was die Bürger und Bürgerinnen erwarten“. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will dem Vereinigten Königreich bei den Austrittsverhandlungen keine Sonderrolle zugestehen: „Wir werden sicherstellen, dass die Verhandlungen nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei geführt werden“, sagte sie in ihrer Regierungserklärung im Deutschen Bundestag.

Der Freistaat setzt unterdessen auf die nahtlose Fortführung der wechselseitigen Beziehungen. „Bayern hat ein hohes Interesse daran, dass sich das Verhältnis Europas zu Großbritannien auch künftig gut gestaltet“, erklärt Staatskanzleichef Marcel Huber (CSU). „Das Vereinigte Königreich bleibt ein wichtiger Partner in der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik.“ Huber ruft zu Besonnenheit auf. Der Brexit solle zügig, aber weder mit Eile noch mit „Rosinenpickerei“ verhandelt werden.

„Idee Europas wiederbeleben“

Rosenheims CSU-Bundestagsabgeordnete Daniela Ludwig versteht den Brexit entsprechend auch als „Warnschuss für die EU“ und „tiefen Einschnitt“, dringt darauf, „Planungssicherheit herzustellen“: „Wir müssen die Idee Europas wiederbeleben und die notwendigen Reformen einleiten, damit für die Menschen wieder greifbar wird, wie sehr sie von der EU profitieren können. Ein solches Referendum soll sich in keinem anderen Land wiederholen. Deshalb muss die EU das liefern, was ihre Bürger von ihr erwarten.“ Und der Vorsitzende der deutsch-britischen Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag mit Wahlkreis in Mühldorf, Stephan Mayer (CSU), unterstreicht, Großbritannien bleibe ein herausragend wichtiger Partner auch außerhalb der EU: „Wir werden an unsere sehr gute Zusammenarbeit anknüpfen und die bilateralen Beziehungen weiter festigen.“

Ob auch die EU-Kommission im Brexit ein Signal für mehr nationale Mitbestimmung sieht, bleibt abzuwarten. Derweil hat sie laut EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker entschieden, die Parlamente der europäischen Staaten nicht an der Entscheidung über das ausgehandelte Freihandelsabkommen CETA mit Kanada zu beteiligen. CETA gilt als Blaupause für das Freihandelsabkommen TTIP mit den USA. Beide stehen ob ihrer vermuteten drastischen Auswirkungen in der Kritik.

Olaf Konstantin Krueger

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