Bundesverfassungsgericht zieht Grenzlinie: Hartz-IV-Sanktionen müssen abgemildert werden
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Bundesverfassungsgericht zieht Grenzlinie: Hartz-IV-Sanktionen müssen abgemildert werden

Wendepunkt im Dauerstreit um „Hartz IV“: Die umstrittenen Disziplinarmaßnahmen der Jobcenter für ihre „Kunden“ sind ab sofort abzumildern. Denn laut Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sind die Sanktionen zur Durchsetzung der Mitwirkungspflichten beim Bezug von Arbeitslosengeld II teilweise unvereinbar mit dem Grundgesetz. Eine Leistungsminderung in Höhe von 30 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs sei zwar nicht zu beanstanden. Sanktionen aber, die nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs übersteigen oder sogar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führen, sind unzulässig. Gleiches gilt für Sanktionen, bei denen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben ist. Entsprechende Bescheide können auch rückwirkend bis zum 1. Januar 2018 angefochten werden.

Rund vier Millionen Personen beziehen in Deutschland Arbeitslosengeld II (ALG II) – umgangssprachlich: Hartz IV. ALG II stellt die Grundsicherungsleistung für erwerbsfähige Hilfebedürftige nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) dar und gilt als Armutsindikator. Für einen alleinstehenden Erwachsenen beträgt der Regelsatz 424 Euro im Monat. Dieser steigt zum 1. Januar 2020 auf 432 Euro.

Unter dem Motto „Fördern und Fordern“ hat der Gesetzgeber die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen durch erwerbsfähige Bezieher von ALG II allerdings an verhältnismäßige Mitwirkungspflichten gekoppelt, die zum Überwinden der eigenen Bedürftigkeit führen sollen, und das Verletzen der Pflichten sanktioniert, indem die staatlichen Leistungen vorübergehend entzogen werden können (siehe §§ 31 ff. SGB II). So konnte das Jobcenter bislang Leistungsberechtigte, die ihren Mitwirkungspflichten nicht nachkommen, gestaffelt disziplinieren – von einer zehnprozentigen Kürzung bei kleinen Verfehlungen über eine 30- oder 60-prozentige Minderung des Regelsatzes bis hin zum vollständigen Entzug der Unterstützung. Einmal verhängt, galt die Sanktion stets drei Monate lang. 2018 wurden solcherweise knapp 200.000 Personen, mithin 5 Prozent der Leistungsberechtigten, bestraft.

Menschenwürdiges Existenzminimum

Verfassungswidrig ist laut BVerfG nun, erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die innerhalb eines Jahres mehrfach negativ auffallen, das Arbeitslosengeld II um 60 Prozent oder ganz zu streichen, überdies die Kosten für Unterkunft und Heizung einzubehalten. Dies sei mit Blick auf das zu gewährleistende menschenwürdige Existenzminimum unzumutbar. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) muss jetzt eine Gesetzesänderung vorschlagen und das Jobcenter die Verhältnismäßigkeit einer Strafe im Einzelfall prüfen.

Das BVerfG hatte bereits am 23. Juli 2014 erklärt, dass zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht verfehlt werden dürfen und dass die Höhe existenzsichernder Leistungen insgesamt tragfähig begründbar sein muss. Dem Gesetzgeber sei es zwar möglich, aus der statistischen Berechnung der Höhe existenzsichernder Leistungen einzelne Positionen herauszunehmen. „Der existenzsichernde Regelbedarf muss jedoch entweder insgesamt so bemessen sein, dass Unterdeckungen intern ausgeglichen oder durch Ansparen gedeckt werden können, oder ist durch zusätzliche Leistungsansprüche zu sichern.“ (1 BvL 10/12)

Die neuerliche Entscheidung der Richter des Ersten Senats kam einstimmig. Vizegerichtspräsident Stephan Harbarth erläuterte, die Wirkung der Sanktionen sei selbst 14 Jahre nach Einführung von ALG II noch nicht umfassend untersucht. Im Verfahren ging es weder um kleinere Verfehlungen noch um besonders scharfe Sanktionen für Leistungsempfänger unter 25 Jahren. Ausgangspunkt war ein Fall beim Sozialgericht im thüringischen Gotha, bei dem einem Arbeitslosen der Regelsatz um 234,60 Euro gekürzt wurde, weil er beim Jobcenter Erfurt ein Stellenangebot abgelehnt und Probearbeit verweigert hatte.

Dr. Olaf Konstantin Krueger

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