Debatte um Freiheitsrechte in der Corona-Krise – Herrmann: „Rechtsstaat ist voll funktionsfähig“
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Debatte um Freiheitsrechte in der Corona-Krise – Herrmann: „Rechtsstaat ist voll funktionsfähig“

Berlin/München – „Corona-Kehrtwende“, „Turbo-Rückkehr in die Normalität“ und „Fahrplan für einen Neustart der deutschen Wirtschaft“: Die Euphorie über die Lockerungen der wochenlangen flächendeckenden Einschränkungen überstrahlt die Furcht vor der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus und vor den Schäden des drastischen Lockdowns. Das Hochgefühl überdeckt kurzfristig auch die Kontroverse um das Verhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit im Rechtsstaat, welche durch die Maßnahmen in der Corona-Krise angestoßen worden ist: Inwieweit sind schwerwiegende Grundrechtseinschränkungen zugunsten des Gesundheitsschutzes zu rechtfertigen?

Sieben Wochen Lockdown, Debatte über die Exit-Strategie: „Wir stehen noch mitten in der Pandemie“, mahnte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/DIE GRÜNEN). Doch selbst der Ordnungsruf von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) und ihre Kritik an „Öffnungsdiskussionsorgien“ vermochte nicht, den Druck zur schrittweisen Lockerung der Corona-bedingten Auflagen zu deckeln. Bayerns Ministerpräsident Dr. Markus Söder (CSU) profilierte sich obendrein als Taktgeber: „Wir müssen endlich zu grundlegenden, langfristigen Plänen kommen und uns nicht nur von Woche zu Woche hangeln.“ Mittwoch folgte dann die Wende. Der Clou: ein Bündel weit reichender Lockerungen und die Regionalisierung der Verantwortung.

Merkel hatte sich allerdings durchgesetzt – mit einer „Obergrenze“: Die Corona-Krise sei nur in den Griff zu bekommen bei maximal 50 akut Infizierten pro 100.000 Einwohnern innerhalb der letzten sieben Tage. Dadurch sei die Nachvollziehbarkeit der Kontaktkette noch gegeben. Die Infektion könne nicht entgleiten. Werde diese Infektionsrate jedoch überschritten, sei erneut ein Beschränkungskonzept einzuführen. Bei verteilten regionalen Ausbruchsgeschehen und unklaren Infektionsketten müssten entsprechend lokale Beschränkungen umgesetzt werden, damit nicht das gesamte Bundesgebiet in Mitleidenschaft gezogen werde.

Verordnungen verschärfen Einschränkungen

Was dies konkret bedeutet, veranschaulichen die am 16. März zwischen Bund und Ländern beschlossenen „Leitlinien“ zum einheitlichen Vorgehen während der Pandemie: Die Maßnahmen begründeten die Schließung von Spielplätzen, Kitas, Schulen, Clubs, Theatern und Einzelhandelsgeschäften – Ausnahme: Lebensmittelgeschäfte –, verboten Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen und Synagogen. Bund und Länder einigten sich am 22. März zudem auf umfangreiche Kontaktbeschränkungen: Die Bundesbürger sollten ihre sozialen Kontakte weitgehend reduzieren und im öffentlichen Raum einen Mindestabstand von 1,50 Meter zueinander halten. Ihr Aufenthalt im öffentlichen Raum war nur alleine, mit einer weiteren nicht im Haushalt lebenden Person oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Hausstands gestattet – Ausnahmen: der Weg zur Arbeit, zur Notbetreuung, die Teilnahme an erforderlichen Terminen, individueller Sport und die Bewegung an der frischen Luft. Gruppen feiernder Menschen waren nun inakzeptabel. Gastronomiebetriebe und Dienstleistungsbetriebe im Bereich der Körperpflege wurden geschlossen – Ausnahmen galten nur für medizinisch notwendige Dienste. In allen Betrieben mussten Hygienevorschriften eingehalten sowie wirksame Schutzmaßnahmen umgesetzt werden. Bayern, Sachsen und das Saarland, gingen darüber hinaus, erlaubten das Verlassen der eigenen Wohnung nur noch bei Vorliegen eines „triftigen Grundes“.

Mit Beschluss vom 30. März erklärte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) die vorübergehenden Ausgangsbeschränkungen aufgrund der Verordnung des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege (StMGP) vom 24. März für zulässig: Die Verordnung verstoße nicht gegen das verfassungsrechtliche Übermaßverbot und stehe auch sonst mit höherrangigem Recht im Einklang (Az. 20 NE 20.632). Obschon die Maßnahmen zunächst für zwei Wochen gelten sollten, sind sie mittlerweile bis zum 5. Juni verlängert worden – elf Wochen. Unterdessen wurde über Bußgelder sinniert, das Infizierten-Tracking mittels Handy-Ortung oder via Smartphone-App debattiert, obendrein die allgemeine Zwangsimpfung angedacht.

Einigten sich Bund und Länder bereits am 15. April laut Merkel „mit äußerster Vorsicht“ auf Lockerungen der strengen Regeln, etwa auf die Wiederaufnahme des Schulbetriebs ab 4. Mai einschließlich Maskengebot im öffentlichen Raum, so beschlossen sie am 6. Mai angesichts niedriger Infektionszahlen weitere Erleichterungen: Künftig dürfen sich wieder Angehörige von zwei Haushalten treffen sowie Patienten oder Bewohner in Kliniken, Pflegeheimen und Behinderteneinrichtungen wiederkehrend Besuch erhalten. Alle Geschäfte können unter Auflagen öffnen. Der Trainingsbetrieb im Breiten- und Freizeitsport ist unter freiem Himmel erlaubt, die Fußball-Bundesliga darf die unterbrochene Saison ab der zweiten Mai-Hälfte mit „Geisterspielen“ fortsetzen. Treten jedoch regional zu viele Neuinfektionen auf, sind die Beschränkungen dort wieder zu verschärfen. Wohlgemerkt: Schutzmaßnahmen, Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen bleiben bestehen.

„Grundrechte beschränken sich gegenseitig“

Die sukzessive Lockerung überdeckt die zuletzt aufkeimende Debatte über die Verhältnismäßigkeit der Beschränkung von Freiheitsrechten zum Schutz anderer oder des Gemeinwohls. Legitim ist: Zur Bewältigung der Pandemie kann der Staat Grundrechte beschränken. Rechtliche Grundlage für die aktuellen staatlichen Maßnahmen ist das Infektionsschutzgesetz (IfSG), welches Schutzmaßnahmen zur Seuchenbekämpfung regelt. So können zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung beschränkt werden (IfSG § 28). Darüber hinaus können die Landesregierungen noch eigene Gebote und Verbote in Form von Rechtsverordnungen erlassen (IfSG § 32).

Allerdings darf der Staat nur dann in Grundrechte eingreifen, wenn dies verhältnismäßig zum verfolgten Zweck ist. Insgesamt sind derzeit folgende Grundrechte betroffen oder beschränkt: die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt zur Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG), das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG), das Recht auf ungestörte Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG), die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG), die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG) sowie die Freiheit der Berufswahl (Art. 12 Abs. 1 GG).

Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble (CDU) qualifizierte dazu Ende April die Vorstellung, alles habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten: „Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ Der Staat müsse zwar für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten. „Aber Menschen werden weiter auch an Corona sterben“, so der Jurist.

Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. em. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier betont in diesem Zusammenhang die Rolle des Rechtsstaates. Bei der Abwägung seien die kollidierenden Grundrechte angemessen zu berücksichtigen: Gesundheitsschutz rechtfertige nicht jedweden Freiheitseingriff. Zudem müssten die Einschränkungen immer wieder auf ihre Verhältnismäßigkeit hin geprüft werden: „Nicht die Maßnahmen der Lockerung sind rechtfertigungsbedürftig, sondern die Aufrechterhaltung von Beschränkungen der Grundrechte.“ Papier wirft zudem die Frage auf, ob die durch exekutive Verordnungen und behördliche Verwaltungsakte geschaffene „Art Notstandsordnung“ verfassungsrechtlich zulässig sei: Je länger die Maßnahmen fortbestünden, desto mehr bedürften sie der Ermächtigung durch ein besonderes Bundesgesetz. Elementar: „Wesentliche Entscheidungen in Fragen der Grundrechtsausübung hat das Parlament zu treffen.“

Der Bayerische Staatsminister des Innern Joachim Herrmann (CSU) versichert demgegenüber, die in der Corona-Krise getroffenen Einschränkungen von Grundrechten würden wieder zurückgenommen. „Ich habe überhaupt keinen Zweifel, dass es in puncto Grundrechtslage am Schluss wieder so sein wird, wie es war“, sagt Herrmann. „Wir hatten massive Grundrechtseingriffe, aber es ist wichtig festzustellen: Wir haben zu keinem Zeitpunkt unsere Demokratie außer Kraft gesetzt.“ Und: „Der Rechtsstaat ist voll funktionsfähig.“

Dr. Olaf Konstantin Krueger

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