Rosenheimer Rotwesten zeigen Bundesverkehrsminister Scheuer die Rote Karte – Brenner-Nordzulauf: Jetzt wird Tacheles geredet!
Trotz eisiger Temperaturen empfingen rund 3000 Rosenheimer „Rotwesten“ Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer vor dem Landratsamt mit Plakaten, Bannern und „Roten Karten“. Foto: Olaf Konstantin Krueger
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Rosenheimer Rotwesten zeigen Bundesverkehrsminister Scheuer die Rote Karte – Brenner-Nordzulauf: Jetzt wird Tacheles geredet!

Rosenheim – Im Streit um die nördliche Zulaufstrecke zum Brennerbasistunnel werden neben möglichen neuen Strecken durch das Inntal nun die Ertüchtigung der Bestandsstrecke geprüft, der Planungsdialog verbessert und das Verfahren beschleunigt: Bis Juli sollen Vorschläge für fünf Trassen vorliegen. Dies hat Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) im Landratsamt Rosenheim nach einem vierstündigen Gespräch mit rund 100 Betroffenen, darunter mehr als 40 Bürgermeister und Vertreter von 14 regionalen Bürgerinitiativen, angekündigt. Scheuer präsentierte zudem die lange geforderten Bedarfszahlen aus einer Szenarienstudie. Bis zum Einvernehmen scheint der Weg dennoch lang.

Empfangen worden war Scheuer in Rosenheim von rund 3000 in „Rotwesten“ mit dem Aufdruck „Brenner DBakel“ gekleideten Demonstranten. Sie waren in einem Sternmarsch lautstark mit Trillerpfeiffen, Kuhglocken, Megafonen, Plakaten, Bannern und „Roten Karten“ zum Landratsamt gezogen. Ihre vier Trecks wurden von insgesamt 150 grünen Traktoren begleitet. „Stopp, stopp, stopp – Planungsstopp“, skandierten die Gegner des Brenner-Nordzulaufs und zeigten dabei rot-weiße Transparente mit Aufschriften wie „Kein Inntal 21 – Stoppt den Bahnsinn!“, „Bestand modernisieren, statt Heimat zerstören“ und „Ohne Bedarfsnachweis und positiven Nutzen-Kosten-Faktor sofort Planungsstopp“. Drei am Galgen baumelnde Puppen symbolisierten auf einem Mottowagen den Tod des Bauernstandes.

Auf der Kundgebung benannte der Vorsitzende des „Brennerdialog Rosenheimer Land e. V.“, Thomas Riedrich aus Stephanskirchen, im Beisein des Bundesministers und der CSU-Wahlkreisabgeordneten Daniela Ludwig die Positionen der Demonstranten. Seine rund 20-minütige Rede wurde immer wieder von Beifallsbekundungen unterbrochen. „Ein Weiter-so wird es mit uns nicht geben“, rief Riedrich aus und kritisierte DB Netz AG und „leere Versprechungen“ des vormaligen Bundesverkehrsministers Alexander Dobrindt (CSU), dessen Vorgehen beim bisherigen Planungsdialog Vertrauen verspielt hätte. So sei das Dialogverfahren der Bahn gescheitert – wegen mangelnder Offenheit, mangelnder Transparenz und fehlender Neutralität, wegen im Vorfeld definierter Ergebnisse und mangelnder Kompetenz der Verantwortlichen, die Belange der Region zu berücksichtigen. Dennoch bestünden die Bürgerinitiativen auf ihr Recht auf eine „echte“ Bürgerbeteiligung.

Riedrich: „Bisheriger Planungsdialog war Showveranstaltung“

„Keiner hier wünscht sich ein Verkehrschaos“, versicherte Riedrich. „Wir wollen eine vernünftige und bedarfsgerechte Nordzulaufstrecke zum Brennerbasistunnel – wir wollen die Verlagerung von Güterverkehr auf die Schiene – und wir sind bereit, aktiv und konstruktiv an so einer Lösung mitzuarbeiten – aber notwendig und sinnvoll muss diese Lösung sein.“ Daher solle Scheuer erstens den Planungsdialog seines Amtsvorgängers Dobrindt stoppen, zweitens den Bedarf für ein drittes und viertes Gleis „beweisen“, drittens darauf hinwirken, dass die Bestandsstrecke von Kiefersfelden nach Rosenheim modernisiert und als Brenner-Nordzulauf bedarfsgerecht inklusive Lärmschutzmaßnahmen, Einhausungen und Untertunnelungen ausgebaut sowie viertens der Güterverkehr auf die kürzesten Transitstrecken verteilt werde.

Bundesverkehrsminister Scheuer wiederum versicherte, mit allen Beteiligten ins Gespräch kommen zu wollen und die Modalitäten des Bürgerdialogs zu verändern. Die Untersuchung der Bestandsstrecke werde in die Erwägungen einbezogen, die geforderten Prognosen vorgelegt, der Planungsprozess zum Brenner-Nordzulauf allerdings fortgesetzt. Im anschließenden vierstündigen „Arbeitsgespräch“ im Landratsamt diskutierte Scheuer mit dem Landrat, der Rosenheimer Oberbürgermeisterin, Bürgermeistern des Landkreises und Vertretern der Bürgerinitiativen. Danach resümierte er, ein „breites Meinungsspektrum und unterschiedliche Anliegen“ erkannt zu haben. Riedrichs „Aufgabenkatalog“ wolle Scheuer „abarbeiten“, doch „bei der Zusammensetzung werden wir keine Maximalforderungen erfüllen können“.

Scheuer: „Es gibt einen klaren Auftrag, ich kann keinen Stopp verhängen“

Scheuer verdeutlichte die Ergebnisse aus seiner Sicht: kein Planungsstopp, verbesserter Bürgerdialog, Aufnahme der Anliegen der Bürgerinitiativen, „Verschlankung“ der Streckenvorschläge auf fünf Trassenvarianten plus Bestandsstrecke bis Juli 2019, Ertüchtigung der Bestandsstrecke, Umsetzung eines über die Standards hinausgehenden „Lärmschutz’ plus“. Während derzeit täglich 185 Züge auf der Bestandsstrecke durch das Inntal führen, lägen bis zum Jahr 2050 vier Szenarien vor. Bis 2030 sollen es 226 Züge werden, womit die Obergrenze von 260 Zügen nicht erreicht werde. Mit Einführung des „European Train Control System (ETCS)“ könnte die Kapazität auf 320 Züge steigen. Je nach Berücksichtigung verschiedener Faktoren – etwa italienische Häfen, das Deutsche Eck oder die Entwicklung des Bruttoinlandsproduktes – werden in den Szenarien bis 2050 zwischen 401 und 558 Züge pro Tag erwartet. „Diese Szenarien wurden bei einem konstant bleibenden Personenverkehr entwickelt, doch auch hier müssen wir mit Steigerungen rechnen“, betonte Scheuer.

Bundestagsabgeordnete Daniela Ludwig erklärte, bevor neue Flächen verbraucht würden, müssten Kapazitätserweiterungen im Bestand geprüft werden. Dies müsste schnell und zeitnah erfolgen, weil bis auf Weiteres die Verkehre auf der Bestandsstrecke abgewickelt werden müssten. Wesentliche Punkte sind für die verkehrspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: die Prüfung von Ortsumfahrungen, die Digitalisierung der Strecke durch ETCS und ein stärkerer Lärmschutz. Hierbei fordert Ludwig von der Bahn, den längst beschlossenen und vom Bund finanzierten Lärmschutz zügiger zu realisieren. Auf den Prüfstand sollten zudem die geplanten Verknüpfungsstellen, die für das Inntal eine große Belastung darstellten. Besonderes Augenmerk forderte Ludwig auch für den Streckenabschnitt Rosenheim/Trudering: „Hier sind wir mit 260 Zügen täglich schon jetzt an einer Belastungsgrenze“, konstatierte Ludwig.

Landkreisbürgermeister äußern Lob und Kritik

„Angenehm überrascht“ zeigt sich der stellvertretende Landrat Josef Huber von diesem „konstruktiven und sachlichen Austausch“. Oberbürgermeisterin Gabriele Bauer betrachtet indes Rosenheim mit der Bestandsstrecke als „stark betroffen“ und fordert „sinnvolle Maßnahmen mit modernsten Möglichkeiten“ für die Anwohner. Eine Planung mit priorisiertem Ausbau der Bestandsstrecke werde die Stadt Rosenheim nicht akzeptieren. Aus den Reihen der Landkreisbürgermeister kommen Lob und Kritik. Hajo Gruber aus Kiefersfelden, Hubert Wildgruber aus Oberaudorf, Stefan Lederwascher aus Flintsbach und Olaf Kalsperger aus Raubling begrüßen die Fortsetzung des Planungsdialoges mit klaren Aussagen. Dagegen kritisiert etwa Rainer Auer aus Stephanskirchen, Bundesverkehrsminister Scheuer betrachtete das Inntal „zuallererst als Verkehrsweg und nicht als Lebensraum“, weshalb Auer die Bürgerinitiativen weiterhin genauso unterstütze wie Christian Praxl aus Rohrdorf, der wegen fehlender Modalitäten im Dialogverfahren seinen Platz „nicht am Verhandlungstisch“ verortet. Georg Huber aus Samerberg sieht wiederum der Vorstellung der fünf Trassen im Juli mit Spannung entgegen. Und Bernd Fessler aus Großkarolinenfeld geht davon aus, sobald die „5-plus-1-Alternativen“ vorlägen, könnte konkret argumentiert werden.

Derweil begrüßt Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der „vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V.“, die Fortsetzung des Planungsdialogs mit allen Beteiligten, denn der Brennerbasistunnel (BBT) werde nach seiner Inbetriebnahme 2026 das Herzstück des Transeuropäischen Netze-Korridors von Helsinki nach Malta bilden und die Nord-Süd-Verkehrsachse für die bayerische Wirtschaft „äußerst wichtig“ sein. Andreas Bensegger, Vorsitzender des IHK-Regionalausschusses Rosenheim, zeigt sich ebenfalls zufrieden mit dem „Bekenntnis der Bundespolitik zum Projekt“ und der „klaren Absage an einen Planungsstopp“. Die Alpenländer Deutschland, Österreich und Italien müssten die verkehrlichen Herausforderungen gemeinsam lösen. Die Deutsche Bahn hält den BI entgegen, es gehe „um die Kapazitäten, die man für kommende Generationen braucht“. Und Sabine Lehmann, Geschäftsführerin beim „LBS – Landesverband Bayerischer Spediteure e. V.“, betont: „Wenn wir es ernst meinen mit der Verlagerung von Güterverkehr von der Straße auf die Schiene, führt am BBT kein Weg vorbei – und ist es dringend erforderlich, dass auch auf deutscher und bayerischer Seite eine leistungsfähige und zuverlässige Infrastruktur entsteht.“ Der BBT dürfe nicht auf deutscher Seite durch einen Flaschenhals konterkariert werden.

Kommunal- und Landespolitiker sind verschiedener Ansicht

Die Rosenheimer SPD-Politiker zeigen sich hingegen enttäuscht: Bundesverkehrsminister Scheuer habe weder konkrete Zugzahlen noch Lösungsvorschläge für einen „transparenten und ehrlichen Bürgerdialog“ geliefert. Deshalb wollen sie sich weiter gegen das Großprojekt stellen und sind „erfreut“ über den Beistand der sozialdemokratischen EP-Abgeordneten Maria Noichl. Steffi König und Hubert Lingweiler, Vorsitzende des Kreisverbandes Stadt und Landkreis Rosenheim von Bündnis 90/DIE GRÜNEN, erklären indessen die Befürwortung eines Trassenneubaus durch Dr. Anton Hofreiter, Vorsitzender der Bundestagsfraktion, als „nicht unberechtigt“, weshalb sie auf eine forcierte Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene dringen.

Die Rosenheimer CSU-Landtagsabgeordneten Otto Lederer und Klaus Stöttner begrüßen das „offene Ohr“ des Ministers „für die Sorgen der Menschen in der Region“ und die Ergebnisse des Arbeitsgesprächs, wünschen sich aber ähnlich wie in Tirol „überwiegend unterirdische Planungsvarianten“. Martin Hagen, Fraktionsvorsitzender der FDP im Bayerischen Landtag und Abgeordneter für Rosenheim, freut sich über die Absage an einen Planungsstopp und die vorgelegten Zahlen der Szenarienstudie. Die AfD-Landtagsabgeordneten Andreas Winhart und Franz Bergmüller bemängeln wiederum „die wirre Datenlage“ und „ein erhebliches Maß an Ungenauigkeit“ der Szenarien. Für einen Trassenneubau fordern sie eine Untertunnelung durch das Inntal ohne Finanzierungsvorbehalt und empfehlen einen Bürgerentscheid über das Großprojekt in Stadt und Landkreis, „weil die Auswirkungen für die Region vor allem die Bürger vor Ort betreffen“.

Englhart: „Keine einzige Forderung erfüllt“

Brigitte Englhart von der „Bürgerinitiative Pro Riedering – brenna tuats“ sieht allerdings wegen der „bodenlosen Ignoranz“ Scheuers den Grundstein gelegt für ein „Inntal 21“: „Wir Bayern mögen manchmal langsam sein, doch wenn es gilt, sich für unsere Werte wie Heimat einzusetzen, dann können wir auch massivst zeigen, was wir von dieser Politik halten“, erklärt Englhart. Auch Thomas Riedrich qualifiziert das Arbeitsgespräch mit Bundesverkehrsminister Scheuer als „sehr enttäuschend“, weil keine konkreten Bedarfszahlen vorgelegt worden wären, die genannten Zahlen zu „Onkel Scheuers Märchenstunde“ gehörten und das Ergebnis des Austausches „eine schallende Ohrfeige“ sei, denn ein Planungsstopp sei kategorisch ausgeschlossen worden. Da trotz der Proteste auf ein Weiter-so gesetzt werde, würden die BI ihren Widerstand „intensivieren“: „Die Zeit für Kuschelkurs ist abgelaufen.“

Dr. Olaf Konstantin Krueger

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